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Titel
Der Körper im Blick. Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus


Autor(en)
Weinert, Sebastian
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzueit 50
Erschienen
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maren Möhring, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gelten aus körperhistorischer Perspektive als eine entscheidende Phase: Der Körper rückte mit neuer Vehemenz ins Zentrum individueller und gesellschaftlicher Sorge; noch heute relevante Körperpraktiken, Darstellungsformen und Sprechweisen über den Körper wurden etabliert und institutionalisiert. Entsprechend viel Aufmerksamkeit erfährt dieser Zeitraum seit Längerem in der Körpergeschichte.1 Sebastian Weinert nun ergänzt mit seiner 2014 an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation über den Körperdiskurs vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg die bisherige Forschung um eine auf breiter Quellenbasis klar argumentierende und gut lesbare Studie über die deutschen Gesundheitsausstellungen der Zeit. Im Zentrum steht zum einen das Deutsche Hygienemuseum in Dresden, dessen Ausstellungen weltweit Vorbildcharakter hatten. Zum anderen fokussiert Weinert die wissenschaftliche und insbesondere medizinische Deutungsmacht über den Körper sowie die Politisierung des Körpers seitens unterschiedlicher Akteursgruppen. Er wertet dafür eine Vielzahl an Archivmaterialien und gedruckten Quellen aus, die es ihm ermöglichen, die Planung, Organisation und Durchführung sowie die Finanzierungsprobleme der zentralen Gesundheitsausstellungen der Zeit – Erste und Zweite Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911 bzw. 1930/31, GeSoLei in Düsseldorf 1926, „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“, „Wunder des Lebens“, „Deutschland“ und „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ in Berlin 1934, 1935, 1936 bzw. 1938 – detailreich nachzuzeichnen.

Im Anschluss stellt Weinert die beteiligten kommunalen, (wohlfahrts)staatlichen, wissenschaftlichen und gewerblichen Akteursgruppen und ihre Vernetzung, aber auch die Konflikte zwischen ihnen genauer vor. Bei den Streitigkeiten ging es nicht nur um Größe und Lage der jeweiligen Ausstellungsflächen, sondern auch um konfligierende (Berufs-)Interessen, etwa zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde/Homöopathie, oder gänzlich unvereinbare Positionen, wie der Autor am Beispiel der Proteste der Abstinenz-Bewegung gegen die Präsenz von Alkoholunternehmen auf den Ausstellungen anschaulich darlegt. In der Tradition der Weltausstellungen stehend, beinhalteten die Gesundheitsausstellungen neben den belehrenden Sektionen über die Funktionsweise des menschlichen Körpers und Hygienemaßnahmen immer auch einen Vergnügungsbereich, zu dem Sportveranstaltungen, Jahrmarktselemente und nicht zuletzt auch der Bierausschank zählten. Die Besucherseite auch in den Blick zu nehmen, ist ein erklärtes Ziel des Autors. Aufgrund der schwierigen Quellenlage aber bleiben die Ausführungen zur Rezeption der Ausstellungen und zu den eigensinnigen Aneignungsweisen der Besucher/innen im Vergleich eher blass. Umso interessanter ist dafür der Versuch Weinerts, die deutschen Gesundheitsausstellungen international zu kontextualisieren: Von Anfang an, wenn auch in unterschiedlichem Maße, adressierten die Ausstellungen nicht allein ein nationales, sondern immer auch ein internationales Publikum; zudem bemühten sich die Veranstalter in den meisten Fällen auch mit Nachdruck um ausländische Beteiligung. Viele der Ausstellungen tourten zudem auch jenseits der deutschen Grenzen. Genauer geht Weinert in diesem Zusammenhang auf deutsch-niederländische und deutsch-amerikanische Kooperationen ein, die es ihm ermöglichen, nach der Spezifik des deutschen Körperdiskurses respektive nach international gängigen Konzepten und Betrachtungsweisen des Körpers im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu fragen. Er kann zeigen, dass sich das medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen über den Köper in den untersuchten Ländern kaum unterschied, dass aber durchaus Differenzen bestanden in der Art der Vermittlung dieses Wissens und insbesondere im Hinblick auf die politischen Konsequenzen, die aus den (z.B. eugenischen) Annahmen gezogen wurden – mit besonderer Radikalität bekanntlich im nationalsozialistischen Deutschland.

In den letzten beiden Kapiteln seiner Studie unternimmt Weinert den Versuch, die Strukturen des Körperdiskurses und seine Ein- und Ausschlussmechanismen systematisch herauszuarbeiten. Er unterscheidet vier zentrale, dabei aber miteinander verschränkte Perspektiven: „Vermessene Körper“, „Leistende Körper“, „Ästhetische Körper“ und „Genormte Körper“. Weinert gelingt es auf diese Weise, die hohe Relevanz quantifizierender Zugriffe auf den individuellen Körper wie die Bevölkerung, von Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, Schönheits- und Natürlichkeitsnormen sowie der Moralisierung von Körpern in der Moderne aufzuzeigen. Diese Aufschlüsselung des Körperdiskurses ist hilfreich, um seine Vielschichtigkeit greifbar zu machen. Mitunter geraten dabei aber – trotz gegenteiligen Anliegens – die Verschränkungen dieser Perspektiven aus dem Blick. So lassen sich die Grenzen zwischen medizinischer Diagnose einerseits und moralischer Zuschreibung andererseits nicht immer klar ziehen. Auch wird nicht expliziert, auf welcher Basis zwischen „positiven“ und „negativen“ Effekten der Gesundheitsausstellungen unterschieden wird. Als negativ wird die disziplinierende Funktion, als positiv hingegen der „Beitrag zur Verbesserung des Gesundheitszustandes jedes Einzelnen“ (S. 316) beschrieben. Wenn es der Studie darum geht, die Maßstäbe, nach denen Körper bewertet wurden, herauszuarbeiten und zu historisieren, dann gälte es meines Erachtens auch, die grundlegende, die Ausstellungen motivierende und legitimierende Norm, nämlich Gesundheit, als solche zu befragen.2

Im letzten Kapitel mit dem Titel „Der Körper als Differenz“ widmet sich Weinert vor allem den eugenischen und rassenhygienischen Vorstellungen und dem Verhältnis von Individuum und „Volksgemeinschaft“. Der Großteil des hier Ausgeführten ist hinlänglich bekannt; eine (körper)theoretische Erörterung des titelgebenden Differenzbegriffs und wie er hier verwendet wird, sucht man zudem vergebens. Generell wird die Geschlechterdifferenz in der Studie nur an wenigen Stellen und kaum systematisch behandelt – und das, obwohl ‚der‘ Körper jeweils als weiblicher oder (häufiger) männlicher Körper entworfen und gezeigt wurde. Den im lesenswerten Kapitel über die Objekte der Ausstellung und ihre Biographien thematisierten, in Dresden hergestellten und weltweit gezeigten „Gläsernen Menschen“ etwa gab es in zweifacher Ausführung. An Stellen wie diesen hätte die Arbeit von einer stärker geschlechtergeschichtlichen und darüber hinaus intersektionalen Perspektive profitiert.

Auch wenn die Untersuchung in vielen Teilen bereits bekannte Forschungsergebnisse – allerdings auf der Basis von neu ausgewertetem Quellenmaterial – ‚nur‘ bestätigen kann, besteht ihre große Leistung doch darin, mit den Gesundheitsausstellungen eine besonders relevante Plattform des damaligen Körperdiskurses erstmals in der nötigen Ausführlichkeit in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus werden an vielen Stellen die Uneindeutigkeiten des Körperdiskurses überzeugend aufgezeigt und die sich innerhalb der genannten Perspektiven auf den Körper ergebenden Spielräume sichtbar gemacht. Dem Autor gelingt auf diese Weise eine nuancierte Sicht auf ‚den‘ Körper und die mit seiner Vermessung, Ästhetisierung und Moralisierung verbundenen divergierenden Zielsetzungen der verschiedenen Akteursgruppen. Auch der Blick über die deutschen Grenzen hinaus bereichert die – häufig noch immer auf ein bestimmtes Land fixierte – körperhistorische Forschung, wobei eine noch konsequenter global- und kolonialhistorische Einbettung des Körperdiskurses, auch über das Feld der Tropenhygiene hinaus, sicher erhellend gewesen wäre.

Anmerkungen:
1 Daniel Siemens, Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 639–682.
2 Jonathan M. Metzl / Anna Kirkland (Hrsg.), Against Health. How Health Became the New Morality, New York 2010.